boykottiert die systeme!

Rudolf Herz, Julia Wahren

22. — 24. Jul 22

Stadtraum München

auf dem Schwarz-Weiß-Foto sind mehrere ältere Personen zu sehen, die auf regennasser Straße auf den/die Betrachter*in zulaufen

Zurück In München. Die SUBVERSIVE AKTION © Foto: Matthias Reichelt

Kunst zum Vormärz von ’68.

3 Aktionstage, 7 Filme, 1 Website
München, 22. – 24. Juli 2022

Die 68er Revolte? In Deutschland? Das war doch in Berlin! Oder jedenfalls hauptsächlich. Oder? Tatsächlich hat sie starke Wurzeln in München.  Ihr antiautoritärer Aktivismus geht zum guten Teil auf die Schwabinger Bohème zurück. Treibende Kraft waren die Künstlergruppe SPUR und vor allem die SUBVERSIVE AKTION um Dieter Kunzelmann, zu der später auch Rudi Dutschke stieß. Inspiriert waren sie von der Situationistischen Internationale in Paris.

In ihrem Kunstprojekt boykottiert die systeme! forschen Rudolf Herz und Julia Wahren nach den revolutionären Strömungen der frühen 60er Jahre in München. Herz’ Recherche brachte zahllose Originaldokumente und neue Erkenntnisse zutage. Und sie führte ihn zu Aktivist:innen von damals, die heute, teils hochbetagt, auf der ganzen Welt verstreut leben. Herz hat sie nach München eingeladen, zu Streifzügen durch die Stadt, zu Besuchen historischer Orte und zu einem denkwürdigen Wiedersehen – eine Spurensuche in der Vergangenheit, in einem Wettlauf gegen die Zeit.

Jetzt machen Herz und Wahren den subversiven Spirit vom Vormärz der Revolte sichtbar: in Filmen und in transmedial-künstlerischen Performances im öffentlichen Raum. boykottiert die systeme! gibt den Anfängen der Bewegung erstmals ein Gesicht.

Der öffentliche Raum war das Spielfeld der Aktivist:innen. Der performative Ansatz, mit  Fluxus und (Neo-)Dada, erschloss dem politischen Ausdruckswillen völlig neue Möglichkeiten; Kunst und Kundgebung wurden eins, Gesellschaftskritik und Sabotage gingen Hand in Hand.

Diese neue, enge Verbindung ist in boykottiert die systeme! allerorten gegenwärtig. Vom Neuerfinden der Welt im Schwabing der frühen ‘60er berichtet Birgit Daiber, ehemalige Subversive und später Europaabgeordnete der Grünen, am Freitag 22. Juli ab 18 Uhr auf einem Streifzug durch ihren früheren Wirkungskreis – flankiert von unverhofften Lesungen aus Flugblättern – Treffpunkt ist der Brunnen am Geschwister-Scholl-Platz. „Gaudi an die Macht!“ forderte die Gruppe SPUR im Januar 1961. Julia Wahren macht aus dem Manifest der jungen Künstler eine anarchisch-musikalische Sprachperformance am Samstag 23. Juli um 13 Uhr am Rindermarkt, mit Studierenden der Theaterakademie August Everding und Akteuren der experimentellen Münchner Musikszene. „Mescalin ins Festessen!“ ersann, neben vielen anderen Ideen, die SUBVERSIVE AKTION auf ihrer allerdings nie abgearbeiteten Liste zur Störung der documenta ‘64. Julia Wahren und Kammersänger Christopher Robson machen diese Liste zu einer multistilistschen Sonntagnachmittags-Arie am 24. Juli um 15 Uhr vor dem Kunstbau am Lenbachhaus.

Die sieben Filme mit den Aktivist:innen von damals stellen Herz und Wahren am Sonntag, 24. Juli um 11 Uhr in einer Matinee im Münchner Werkstattkino vor. Und da das Internet längst zum öffentlichen Raum gehört, ist das gesamte Projekt unter www.boykottiertdiesysteme.org zu finden.

Auf das Projekt boykottiert die systeme! folgt im Jahr 2024 die Ausstellung Revolutionäre Ungeduld von Rudolf Herz im Museum Villa Stuck, München.

Performances

streifzug schwabing

Birgit Daiber berichtet von der SUBVERSIVEN AKTION
Freitag 22. Juli 2022, 18 Uhr. Treffpunkt: Brunnen am Geschwister-Scholl-Platz, München

Streifzug mit Birgit Daiber (Aktivistin SUBVERSIVE AKTION) durch Schwabing vom Geschwister-Scholl-Platz zur Bauerstraße 24, wo Dieter Kunzelmanns Kellerwohnung lag. Birgit Daiber fungiert als Fremdenführerin in die subversive Vergangenheit der frühen 60er Jahre. Das Publikum spaziert mit. Unterwegs gibt es kurze Passagen aus den „Unverbindlichen Richtlinien“ der SUBVERSIVEN AKTION und SPUR-Texten, gelesen von Figuren wie aus den frühen 60ern. Darsteller:innen: Sven Hussock, Marion Niederländer

gaudi an die macht

Das Januar-Manifest der Gruppe SPUR
Samstag  23. Juli 2022, 13 Uhr. Ort: Brunnen am Rindermarkt, München

Verkündung des Januar-Manifests der Gruppe SPUR (1961)
Mit experimenteller Volksmusik. Darsteller:innen: Pauline Großmann, Max Koltai, Çağla Şahin, Emma Stratmann (Theaterakademie August Everding). Musiker: Zoro Babel (Schlagwerk), Philipp Kolb (Trompete/Tuba), Wolfgang Roth (Saxophon). Komposition: Julia Wahren

Matinee Kurzfilme

Sonntag 24. Juli 2022, 11 Uhr, Werkstattkino, Fraunhoferstraße 9, 80469 München

Sonntag 24. Juli 2022, 15 Uhr
wie man die documenta sabotiert
Die SUBVERSIVE AKTION macht Pläne zur Sabotage der Kasseler Documenta von 1964
Ort: Königsplatz, Vorplatz zum Eingang Kunstbau, München

Multistilistisches Solo von Kammersänger Christopher Robson. Textgrundlage ist die „Liste von Einfällen für eine Aktion auf der Kasseler Documenta“ der SUBVERSIVEN AKTION. Komposition: Christopher Robson, Julia Wahren

Kurzfilme

Revolutionärer Grabpfleger

Rudolf Herz trifft Dieter Kunzelmann am Grab des SPUR-Künstlers Hans Peter Zimmer und seiner Frau Vera Zimmer.

Die Kirche rülpst in Agonie

Maria Obermeier befragt Manfred Blößer zu einem antiklerikalen Graffito von 1964.

Ich bin immer eine Antiautoritäre geblieben

Streifzug mit Birgit Daiber  in ihre subversive Vergangenheit.

Utopie mit Automaten

Luca Daberto im Gespräch mit Wolfgang Gessner über Chancen und Risiken künstlicher Intelligenz.

Bayrische Weihnacht unter Rebellen

Gretchen Dutschke-Klotz spricht über ihre Begegnung mit Münchner Linksradikalen.

Wie man auch leben kann

Daniela Koch und Julie Timoshkin begleiten Rodolphe Gasché auf einem Streifzug an Orte seiner Erinnerung.

Das 5. Konzil

Rudolf Herz lädt die Aktivisten der Subversiven Aktion zu einer kontroversen Rückschau ein.

Rudolf Herz und Julia Wahren zeigen auf eine Projektion eines historischen Fotos, welches mehrere Personen mit Schildern zeigt
boykottiert die systeme! © Foto: Rudolf Herz, Julia Wahren

Die Künstler*innen

Julia Wahren und Rudolf Herz arbeiten bei Projekten häufig zusammen, so 2016 bei ihrem Kurzfilm „Ox No Ox. A Legend from Madagascar“ mit der madagassischen Filmerin Hary Rason, gefördert von der Bundeskulturstiftung. 2018 erschien ihr Hörspiel „Desperados oder Hitler geht ins Kino“ im Auftrag des Bayerischen Rundfunks. Ihre Multimedia-Performance „Lurie’s Lyrics“ kommt  im November 2022 zur Uraufführung in den Münchner Kammerspielen. Julia Wahren kommt von Musik und Theater, Rudolf Herz von der bildenden Kunst. Beide leben in München.

Julia Wahren hat an der Musikhochschule Detmold studiert; Engagements führten sie ans Deutsche Theater Göttingen und ans ETA-Hoffmann-Theater Bamberg. Sie macht Theater, Film, Performance, Sound- und Voice Art, u.a. bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen, beim Festival Public Art Munich 2018, am Hunter College und am Deutschen Haus New York City. Ihre Themen sind der Mensch, seine Bindungen und seine Freiheit – die gestalterische Macht des Spiels und der Fiktion. Julia Wahren agiert auf Bühnen und im öffentlichen Raum, mit Kolleg:innen aus allen Kunstsparten, etwa dem Ensemble Horizonte, Così facciamo und der Munich Contemporary Music Group. In ihren Projekten erforscht sie die Grenzen zwischen Genres und Formen, Improvisation und Komposition und schafft daraus eigene künstlerische Synthesen.

Rudolf Herz studierte Bildhauerei, erhielt das Villa-Massimo-Stipendium und unterrichtet als Honorarprofessor an der Münchner Kunstakademie. Seine künstlerischen und seine bildhistorischen Forschungen stehen in engem Zusammenhang und beziehen sich oftmals auf erinnerungspolitische Diskurse. 1991 machte er der Stadt Dresden den Vorschlag, das dortige Lenin-Denkmal in demontierter Form an Ort und Stelle zu konservieren. Nach dessen Scheitern ging er 2004 mit den monumentalen Granitbüsten, mit „Lenin on Tour“ durch Europa. Unter dem Motto „Meinen Zeitgenossen zeige ich Lenin. Und Lenin das 21. Jahrhundert. Wer erklärt es ihm?“. Zusammen mit Reinhard Matz war Herz 1997 Preisträger im Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Der viel diskutierte Entwurf „Überschrieben“ sah vor, einen Kilometer Autobahn bei Kassel zu pflastern und zum Denkmal zu erklären und aus dem Verkauf des Berliner Wettbewerbsgrundstücks eine Stiftung für gegenwärtig verfolgte Minderheiten zu finanzieren.

Ort

Stadtraum München

80333 München